Es ist Montagabend, der 22.11. 21, im Herzen von Uerdingen. Mit unseren orangen Motto-Schirmen sind wir angetreten – mit starken Texten von starken Frauen. Wir präsentieren Buchauszüge im Rahmen der „Montagslesungen“, mit denen hier Bürger seit 2013 für die Wiedereröffnung ihrer Bibliothek streiten – es ist die 439. Lesung.
Aber an diesem Montag geht es auf dem alten Marktplatz der Rheinstadt noch um etwas anderes. Heute erstrahlt die Bibliothek in leuchtendem Orange, der Farbe von „Orange the World“. Bei dieser internationalen UN-Kampagne werden ja jedes Jahr Ende November weltweit Gebäude orange angestrahlt, um aufmerksam zu machen auf Gewalt und Unrecht an Frauen – und wir vom ZONTA Club Krefeld am Rhein machen da selbstverständlich mit. Die Aktion ist eine Mahnung, dass jede dritte Frau auf der Welt in ihrem Leben Opfer von Misshandlung wird – körperlich und seelisch. Allein in Deutschland versucht jeden Tag ein Mann, seine Partnerin umzubringen, jeden dritten Tag verliert eine Frau dadurch tatsächlich ihr Leben.
„Das ist erschreckend und vielen nicht bekannt“, sagt Dr. Cornelia Pier, Präsidentin unsers Clubs, „deshalb sprechen wir darüber, laut und klar. Auch, wenn es unbequem ist – wir müssen hinsehen und gemeinsam dagegen angehen, damit sich etwas ändern kann.“
Und so lesen wir an diesem Abend aus Büchern von und über Frauen mit Gewalterfahrung: von ihrem Leid, ihrer Ohnmacht, aber auch von ihrem Mut, aufzustehen und sich zu wehren.
Für die „ZONTA-says NO“- Teamchefin in unserem Club, Gabi Hötter, die dieses Event konzipiert hat, ist die Lesung genau dieser Texte eine Herzensangelegenheit. In ihrer Einführung zitiert sie den Klappentext von „Blicke, Worte, Fäuste“ der Autorin Antje Joel: „Gewalt gegen Frauen ist kein individuelles Problem, es geht uns als Gesellschaft an.“
Dann über gibt sie an Claudia Ellinghoven, die eine eindringliche Passage aus diesem Buch präsentiert: eine Szene, die auf beklemmende Weise Einblick gibt in die Qual jahrelanger Prügel durch den eigenen Ehemann und den Moment der Entscheidung, ihn zu verlassen.
Die Journalistin Esther Jansen betont mit einem Zitat der US-Amerikanerin Naomi Wolf aus „Wenn nicht wir, wer dann – Große Reden großer Frauen“, dass Frauen weltweit nicht mehr schweigen dürfen. Und Sandra Franz, Leiterin der NS Dokumentationsstätte Villa Merländer in Krefeld, zitiert aus „Der Mut zum Überleben“ Geschichten von jüdischen Frauen in Deutschland, die aller um sie herum wütenden Gewalt zum Trotz die Kraft hatten, sich und ihre Familien zu retten.
Die Marktbesucher zeigen sich bewegt an diesem Abend, die Lesung ist gut angekommen. „Die Texte waren sehr gut ausgewählt“, sagt Rosemarie Viehweg, „sehr berührend. Das meint auch Brigitte Gillessen und ergänzt „Sie haben auch klargemacht, dass es wichtig ist, sich zu fragen: wann fängt Gewalt gegen Frauen an, wo versteckt sie sich im Alltag, sie kommt in so vielen Formen.“
Für uns ist dieser Auftritt der Beginn unserer diesjährigen Vorweihnachtsaktivitäten zur Unterstützung von Frauen und Mädchen weltweit.
Nur 3 Tage später, am 25.11., dem offiziellen Eröffnungstag der Orange-Kampagne, stehen wir noch einmal hier am Uerdinger Markt, verteilen Flyer und klären auf über die Arbeit von ZONTA und das Thema „Gewalt gegen Frauen“. Wir kommen ins Gespräch mit Passantinnen, die z.T. erstaunlich unmittelbar und offen von eigener Gewalterfahrung sprechen oder von Geschichten, die in ihrem persönlichen Umfeld passiert sind. Gleichzeitig nehmen wir wahr, dass keine dieser Frauen mit ihrem Namen zitiert und abgelichtet werden möchte. Es zeigt, wie sehr das Thema nach wie vor mit Scham besetzt ist, aber auch mit der Angst, für das Erlebte, das Gesagte, das Bekanntgemachte einmal mehr verfolgt und bestraft zu werden.
Für all diese Frauen, die sich nicht trauen, öffentlich zu sprechen, erheben wir unsere Stimme. Setzen wir dieses Zeichen mit der Leuchtkraft der Hoffnung!
Neben allen 3 Herberzhäusern und dem Nachbarschaftsbüro Chempunkt in Uerdingen sind heute auf unsere Initiative hin zusätzlich auch die NS-Dokumentationsstätte Villa Merländer in Krefeld Bockum und die Elfrather Mühle orange angestrahlt und setzen Lichtpunkte in unserer Stadt.
Als Historikerin weist Sandra Franz, Zontian und Leiterin der NS-Dokumentationsstätte, darauf hin, dass gerade Frauen immer und zu allen Zeiten besonders unter Gewalt zu leiden hatten und haben und es für sie besonders wichtig ist, sich zu solidarisieren.
Und Dr. Cornelia Pier ist es wichtig, an diesem Tag auch noch einmal zu betonen, das Europas Frauen nicht ermüden dürfen in der Forderung nach der konsequenten Umsetzung der sogenannten Istanbul Konvention. Hierbei handelt es sich um ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Der schon 2011 ausgearbeitete völkerrechtlicher Vertrag schafft verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt, er wurde bis 2020 von 45 Staaten unterzeichnet. Leider ist gerade das Land, in dessen Hauptstadt das Parlament 2012 als erstes das Übereinkommen ratifizierte, im März dieses Jahres aus der Konvention wieder ausgetreten, und in Ländern wie beispielweise Kroatien und Polen wird sie nicht befolgt.
„Wir brauchen hier noch viel mehr staatliche Unterstützung, national und international: wir brauchen Forschung, Information, Präventionsstrategien, wir brauchen Therapien für Männer und eine viel größere Zahl an Institutionen, die Frauen eine Zuflucht ermöglichen, wie Schutzwohnungen und Frauenhäuser.“